Die Zeichen der Zeit nicht verkennen!
„Tu deinen Mund auf für die Stummen
und für die Sache aller, die verlassen sind.“
Sprüche 31,8
„Es reicht nicht, die Opfer unter dem Rad zu verbinden.
Man muss dem Rad selbst in die Speichen fallen.“
Dietrich Bonhoeffer
In Anbetracht der tief greifenden globalen ökologischen Krise kamen im Juni 2019 Repräsentant*innen aus zahlreichen Ländern und verschiedenen Konfessions- und Glaubenstraditionen zu einer Konferenz mit dem Titel „Together towards eco-theologies, ethics of sustainability and eco-friendly churches” in Wuppertal/Deutschland zusammen. Die deutschen Veranstalter – Evangelische Kirche in Deutschland (EKD), Evangelisches Missionswerk (EMW), Vereinte Evangelische Mission (VEM) und Brot für die Welt – nutzten die von den Teilnehmenden verabschiedete „Wuppertaler Erklärung: Kairos für die Schöpfung – Hoffnungsbekenntnis für die Erde“ dazu, mit Blick auf die im September 2021 ebenfalls in Deutschland stattfindende 11. Vollversammlung des Ökumenischen Rates der Kirchen (ÖRK) einen weit reichenden Vorschlag zu platzieren: Die weltweite ökumenische Bewegung wird dazu aufgerufen, gemeinsam eine „Dekade des ökologischen Lernens, Bekennens und Handelns gegen den Klimawandel“ zu planen und diese bei der ÖRK-Vollversammlung auszurufen.
So wünschenswert ein auf die globale Klimakrise zugespitzter Arbeitsschwerpunkt des ÖRK im Prinzip auch sein mag, so wenig zielführend erscheint uns, den Unterzeichnenden, wenn dieser deren eigentliche Ursache verschleiert, wie es in der Wuppertaler Erklärung der Fall ist. Denn diese lässt den systemischen Charakter der Krise unserer kapitalistischen Zivilisation weitgehend außer Acht und reduziert stattdessen die notwendige Veränderung auf eine zuvorderst ökologisch definierte Transformation. Angesichts der „multiplen Krise“ der herrschenden (Un-)Ordnung liegt aber längst auf der Hand, dass sich die Frage nach ökologischer nicht mehr von der Frage nach wirtschaftlicher und sozialer Gerechtigkeit trennen lässt und eine Lösung demnach nicht in einem schrittweisen „Heraustransformieren“ aus unserer fossil basierten Produktionsweise bestehen kann. Vielmehr geht es um die Überwindung der „imperialen Lebensweise“ und ein grundsätzlich anderes Wirtschaftssystem.
Mit seiner verkürzten und einseitigen „Analyse“ ignoriert und konterkariert der Wuppertaler Vorschlag die umfassende und grundlegende Kritik an den weltwirtschaftlichen Strukturen, wie sie die weltweite Ökumene zwischen 1983 und 2013 im Rahmen ihrer systematischen Auseinandersetzung mit der ökonomischen Globalisierung formuliert hatte und wie sie auch in ökumenischen Erklärungen der jüngeren Vergangenheit zur Notwendigkeit einer neuen internationalen Finanz- und Wirtschaftsarchitektur (NIFEA) zum Ausdruck gebracht wurde.
Einhelliger Tenor der klaren, über viele Jahre hinweg auf der weltweiten Ebene gewonnenen Einsichten ist dabei, dass – wie es der Lutherische Weltbund bereits 2003 bei seiner 10. Vollversammlung formulierte – die vorherrschende ökonomische Ordnung samt der deren Mechanismen bestimmenden Ideologie einem „Götzendienst“ gleichkommt, da „der auf Privateigentum, ungezügeltem Wettbewerb und der unabänderlichen Geltung von Verträgen aufgebaute Markt das absolute Gesetz ist, das das menschliche Leben, die Gesellschaft und die Umwelt beherrscht“. Die tieferen Wurzeln der hieraus resultierenden massiven Bedrohung des Lebens wurden ein Jahr später als „das Produkt eines ungerechten Wirtschaftssystems [erkannt], das mit politischer und militärischer Macht verteidigt und geschützt wird. Wirtschaftssysteme sind eine Sache von Leben und Tod“ – so der Reformierte Weltbund in seinem „(Accra-)Bekenntnis des Glaubens angesichts wirtschaftlicher Ungerechtigkeit und ökologischer Zerstörung“ von 2004. Ebenso deutlich brachte es der ÖRK in seinem „Aufruf zum Handeln: Ökonomie des Lebens, Gerechtigkeit und Frieden für alle“ von 2012 zum Ausdruck: „Habgier und Ungerechtigkeit, das Streben nach schnellem Profit, ungerechte Privilegien und kurzfristige Vorteile auf Kosten langfristiger und nachhaltiger Ziele sind die Grundursachen der verflochtenen Krisen (…). Diese lebenszerstörenden Werte (…) dominieren die heutigen Strukturen.“
Auf diesem Hintergrund lautete für die weltweite Ökumene die theologisch-ekklesiologische Konsequenz nahezu unisono: dass die Frage der globalen wirtschaftlichen Gerechtigkeit eine für den Gottesglauben und die Nachfolgegemeinschaft als Christ*innen grundlegende Frage darstellt und das herrschende Wirtschaftssystem aus Glaubensgründen mit dem Christ- und Kirchesein unvereinbar ist. Deshalb sollten jetzt deutlicher denn je die vorherrschenden sozio-ökonomischen und geo-strategischen Machtstrukturen in Frage gestellt und die Überwindung der (neo-)kapitalistischen Wirtschafts- und Lebensweise mit dem Ziel der Entwicklung zukunftsfähiger Alternativen eingefordert werden.
Die von prophetischem Geist getragene ökumenische Beschlusslage, die seit dem Pontifikat von Franziskus ein erfreulich deutliches Einvernehmen mit dem Lehrschreiben „Evangelii Gaudium“ und der Enzyklika „Laudato si’“ aufweist, findet indes nur selten Eingang in die konkrete Praxis der ökumenischen Bewegung und der Kirchen. Allzu oft bleibt das ökumenische Agieren aufgrund einer zur Vermeidung von Konflikten mit politischen und wirtschaftlichen Entscheidungsträger*innen für geboten erachteten „Zurückhaltung“ auf Forderungen nach bloß kosmetischen Reformen des strukturell zerstörerischen globalen ökonomischen Systems beschränkt – wie eben auch in der Wuppertaler Erklärung, in der ausgespart bleibt, dass sich soziale ebenso wie Klimagerechtigkeit für alle Menschen nur durch eine fundamentale sozial-ökologische Transformation erreichen lassen. Und dies erfordert letztlich eine radikale Abkehr von den unser Wirtschaften bislang dominierenden kapitalistischen Triebfedern Wachstum und Profit und die Hinwendung zu einer das Gemeinwohl und den Schutz der natürlichen Lebensgrundlagen in den Mittelpunkt stellenden Ökonomie. Oder um es mit den Worten der weltweiten Klimabewegung „Fridays for Future“ zu sagen: „system change, not climate change!“
Das ökumenische Großereignis der 11. Vollversammlung des ÖRK 2021 in Karlsruhe und die Wahl eines neuen Generalsekretärs im August dieses Jahres bieten Gelegenheit, die aus unserer Sicht unerlässliche Neuausrichtung des ÖRK im Sinne einer (wieder) viel intensiveren und vor allem auch entschiedeneren Auseinandersetzung mit den Überlebenskrisen von Menschheit und Schöpfung sowie ihren Ursachen auf den Weg zu bringen. Dabei kann durchaus eine Dekade für die Zukunft der Erde den Rahmen bilden, aber in einer der Gefährlichkeit der Bedrohungen angemessenen Tiefe. In Anbetracht der dramatischen Zeichen der Zeit möchten wir mit diesem Offenen Brief dafür plädieren, die Debatte hierüber bereits im Vorfeld der Vollversammlung in einer die gesamte Breite der ökumenischen Bewegung berücksichtigenden (ergebnis-)offenen Auseinandersetzung und nicht erst in Karlsruhe selbst zu beginnen.
20. April 2020
Unter den Erstunterzeichner*innen befinden sich u.a.:
Bischof Antonio Ablon (Philippinen), P. Dr. Jörg Alt SJ (Nürnberg), ARGE Schöpfungsverantwortung / der Vorstand (Österreich), L’Assemblée Œcuménique (Frankreich), Assistant Bishop Rev. Dr. David Atkinson (Großbritannien), Joseph Bock (Belgien), Bocs Global Think Tank Foundation (Ungarn), Dr. Ulrich Börngen (Stuttgart), Bund der religiösen Sozialistinnen und Sozialisten Deutschlands e.V., Dr. Rudolf Buntzel (Berlin), Dr. Elisabeth Bücking (Sölden), Prof. Dr. Nancy Cardoso Pereira (Brasilien), Rev. Canon Dr. Peter Challen (Großbritannien), ChristInnen für den Sozialismus, Prof. Dr. Meehyun Chung (Südkorea), Prof. em. Dr. Susan E. Davies (USA), Bischof em. Duleep Kamil De Chickera (Sri Lanka), Jean-Marc Degrève (Belgien), Caesar D’Mello (Australien), Dr. Beat Dietschy (Schweiz), Dr. Bernhard Dinkelaker (Filderstadt), Prof. Dr. Ulrich Duchrow (Heidelberg), Prof. Dr. Timothy R. Eberhart (USA), Ecolife Center (Tansania), Evangelische Arbeitsgemeinschaft für Kriegsdienstverweigerung und Frieden (Bonn), Br. Stefan Federbusch OFM (Hofheim), Rev. Dr. Chris Ferguson (Kanada/Hannover), Dr. Hans-Jürgen Fischbeck (Berlin), Projektgruppe „Frauen wagen Frieden“ in der Evangelischen Kirche der Pfalz, Jan Gildemeister (Bonn), Dr. Aruna Gnanadason (Indien), Peter Grohmann (Stuttgart), Prof. Dr. Carlos E. Ham (Kuba), Rev. Dr. Anna Karin Hammar (Schweden), Rev. David Haslam (Großbritannien), Pfr. Reinhard Hauff (Heiningen), Rev. Canon Anthony Hawley (Großbritannien), P. Karl Helmreich OSB (Österreich), Giselher Hickel (Berlin), Prof. Dr. John Hiemstra (Kanada), Institut für Theologie und Politik (Münster), Kairos Europa e.V. (Heidelberg), Prof. Dr. Yong-Bock Kim (Südkorea), Pfr. i.R. Gerhard Köberlin (Hamburg), Prof. Dr. Mathew Koshy Punnackad (Indien), Sr. Beate Krug OSF (Zell a.M.), Bobby Langer (Würzburg), Pfr. i.R. Dr. Gerhard Liedke (Heidelberg), Pfr. i.R. Heiko Lietz (Schwerin), Dr. Julia Lis (Münster), Dr. Boniface Mabanza (Heidelberg), Prof. Dr. Jung Mo Sung (Brasilien), Dr. Rogate R. Mshana (Tansania), Christine Müller (Leipzig), Ched Myers (USA), Kees Nieuwerth (Niederlande), Prof. Dr. Michael Northcott (Yogyakarta/Großbritannien), Ökumenische Initiative Reich Gottes – jetzt!, Ökumenisches Netz Rhein-Mosel-Saar, Prof. Dr. Gottfried Orth (Braunschweig), Rev. Philip V. Peacock (Indien/Hannover), Pro Ökumene – Initiative in Württemberg e.V. / der Vorstand, Barbara Rauchwarter (Österreich), Prof. Dr. Joerg Rieger (USA), Pfr. i.R. Dr. Klaus Roeber (Berlin), Clemens Ronnefeldt (Freising), Prof. Dr. Gert Rüppell (Moers), Lic. theol. Peter Schönhöffer (Ingelheim), Prof. em. Dr. Franz Segbers (Konstanz), Dr. Jiří Silný (Tschechische Republik), Solidarische Kirche im Rheinland, Prof. Dr. Stylianos Tsompanidis (Griechenland), Prof. Dr. Upolu Vaai (Fidschi), Rev. Dr. Stiaan van der Merwe (Südafrika), Kirchenrat i.R. Ernst-Ludwig Vatter (Stuttgart), Alfons Vietmeier (Mexiko), Antonella Visintin (Italien), Dr. Klaus Wazlawik (Berlin), Werkstatt Ökonomie e.V. (Heidelberg), Rev. Josef Purnama Widyatmadja (Indonesien), Dr. Stanley William (Indien), Prof. em. Dr. Renate Wind (Heidelberg), Prof. Dr. Lauri Emilio Wirth (Brasilien), Prof. Dr. Markus Wissen (Berlin).
V.i.S.d.P.: Martin Gück, Willy-Brandt-Platz 5, 69115 Heidelberg