Erinnerung an ein beachtliches Papier und die Notwendigkeit seiner Weiterentwicklung
Koblenz, 21./22.04.2021.
Ökumene wird als Blick auf die Probleme verstanden, die sich auf dem ‚Erdkreis‘ als dramatische Menschheitsprobleme zusammenballen. Diese Perspektive stark gemacht zu haben, darin liegt die Bedeutung der vor zwanzig Jahren, am 22. April 2001, verabschiedeten „Charta Oecumenica“. Sie versteht sich als „Leitlinien für die wachsende Zusammenarbeit
unter den Kirchen in Europa“. Das Ökumenische Netz Rhein-Mosel-Saar erinnert an dieses Papier, weil es den Blick über rein innerkirchliche Fragen hinaus öffnet. Kirchen, die in ihren Krisen zunehmend um sich selbst und ihre Selbstbehauptung kreisen, weist es den Weg zu den Aufgaben, zu denen die Kirchen gesandt sind. Glaube und Sendung sind so miteinander
verbunden, dass sie nur verstanden und gelebt werden können angesichts der sich zuspitzenden weltweiten Überlebensprobleme der Menschheit, die jetzt und lange schon Menschen in Armut und Tod treiben und immer mehr die Grundlagen allen Lebens zerstören.
Im ersten Teil der Charta geht es um die Gemeinsamkeiten im Verständnis des Glaubens und die darin gründenden Möglichkeiten der Begegnung und des gemeinsamen Handelns. Im zweiten Teil wird deutlich in welchen politischen, ökonomischen, ökologischen und kulturellen Zusammenhängen dies geschehen muss. Genannt werden: Nord-Süd-Gefälle,
Eurozentrismus und vor allem Nationalismus, die „Versöhnung … für Völker und Kulturen“, „soziale Gerechtigkeit“, eine „Friedensordnung“, der „Prozess der Demokratisierung“, die Bewahrung der Schöpfung, die christlich-jüdische Zusammenarbeit und der Dialog mit dem Islam sowie anderen Religionen.
Damit hebt sich die „Charta“ wohltuend von einem Verständnis von Ökumene ab, das auf innerkirchlich-konfessionelle Probleme reduziert bleibt. Es wird einem Begriff von Ökumene gerecht, der die Thematisierung der den ganzen ‚Weltkreis’ betreffenden Menschheitsprobleme umfasst und dabei – entsprechend der biblisch begründeten Option für die Armen – die Solidarität mit den Armen und Ausgegrenzten betont.
Dennoch wäre die „Charta“ an einem wesentlichen Punkt weiterzuentwickeln. Sie greift nämlich da zu kurz, wo sie Probleme zwar benennt, sie aber nicht im Zusammenhang auf ein Ganzes bedenkt, dem der Globus und die einzelnen Gesellschaften unterworfen sind: dem Kapitalismus. Er hat sich als ein weltumgreifendes System etabliert, das durch den Zwang aus
Kapital mehr Kapital zu machen und den davon abgespaltenen, an Frauen delegierten und minderbewerteten Reproduktionstätigkeiten bestimmt ist. Dieses System, dessen Grundlage Arbeit ist, stößt mit der schwindenden Bedeutung ausbeutbarer Arbeit immer mehr an seine Grenzen und entfaltet eine Dynamik der Zerstörung, die immer mehr Menschen in Armut und Tod treibt und die natürlichen Grundlagen allen Lebens zu zerstören droht. Den Kapitalismus als tödlichen Götzen und die kapitalistischen Verhältnisse als Fetischverhältnisse zu kritisieren und mit dem Kapitalismus zu brechen, darin sieht das Ökumenische Netz die gegenwärtig zentrale Herausforderung der Ökumene.
Dies würde auch vor der folgenlosen Anrufung von Menschenrechten und Demokratie schützen wie sie auch heute – gerade in deren Niedergang – allenthalben zu hören ist. Zum einen wirken sie in ihren gleichsam zeitlosen Idealisierungen als ‚schlechte Unendlichkeit‘. Das Ideal kann nie erreicht und daher ‚unendlich‘ angerufen werden, während die Katastrophe ihren Gang geht. Zum anderen wäre zu erkennen, dass auch Demokratie und ihre Rechtszusammenhänge Fetische sind, die mit dem Kapitalismus einhergehen und ihn samt dem Denken der Aufklärung legitimieren. Nicht an diesen Götzen festzuhalten, sondern sie zu transzendieren würde dem Gottesnamen und dem mit ihm verbundenen Versprechen der
Befreiung von Herrschaft gerecht werden und wäre Aufgabe von Kirche(n) und ÖkumeneBewegungen.
gez.
Vorstand und Geschäftsführung des Ökumenischen Netzes Rhein-Mosel-Saar e.V.
Author: Martin Gück
Ecumenical networking initiative Casa Comun 2022
Wendezeit – Die Zeichen der Zeit erkennen
April 2021
- Die außerordentliche Krisensituation der menschlichen Zivilisation heute
Wenn es stimmt, was Wissenschaftler immer deutlicher sagen, gehen wir in den nächsten Jahrzehnten auf eine der schwersten Krisen der Menschheit zu. Das erste und gefährlichste Symptom dieser Krisenentwicklung ist der drohende ökologische Kollaps: Schlüsselfaktum ist hier der Ökologische Fußabdruck, der die ökologische Belastungsgrenze unserer Erde misst. Sie wird heute weltweit nahezu um das Zweifache, in Deutschland um das Drei bis Vierfache überschritten. Damit wird das Ökosystem in der Art überlastet und destabilisier, dass wir unsere eigenen Lebensgrundlagen zerstören und unseren Kindern die Zukunft rauben. Die Klimaerwärmung, das Artensterben, der Verlust an unwiederbringlichen Ressourcen und die Vermüllung der ganzen Erde sind die gravierendsten Einschnitte.
Das zweite Symptom ist die extrem ungleiche Anteilhabe an der wirtschaftlichen Wertschöpfung: Etwa ein Zehntel der Menschheit verfügt über 90% des Gesamtvermögens, der Rest der Welt über keine 10%. Dies mit wachsender Scherenentwicklung. So ist das Vermögen der Milliardäre 2018 um 12% gestiegen, das Vermögen der unteren Hälfte der Weltbevölkerung ist um 11% gesunken. Die Gehälter der Supereichen von einigen Hunderttausend oder Millionen Dollar im Jahr werden niemals durch eigene Leistung, sondern durch andere Menschen erarbeitet. Martin Luther nannte dergleichen „Wucher und Diebstahl“.
Ein drittes Symptom ist die fortdauernde imperiale Wirtschafts- und Lebensweise der reichen Industrieländer. Ihr, ach unser! Wohlstand ist zum größeren Teil nicht durch ihre eigene Leistung erarbeitet, sondern durch die Ausplünderung der Natur und durch die Ausbeutung anderer Volker – dies vor allem durch die Welthandelsbedingungen der Industrieländer und die Übermacht der transnationalen Konzerne. Der ehemalige UN-Generalsekretär Kofi Annan stellte in seinem Afrikabericht 2013 fest: „Die abfließenden Gewinne internationaler Konzerne in Afrika sind doppelt so hoch, wie Afrika aus Entwicklungshilfe bekommt.“
Namhafte Philosophen, Zeitgeschichtler, Wissenschaftler und Theologen unserer Zeit wie Richard David Precht, Juval Harari, Harald Lesch, Harald Welzer, Hans Joachim Schellnhuber, Leonardo Boff u.a. sind sich einig: Wenn sich die ökologischen, ökonomischen und sozialen Krisenentwicklungen weiter zuspitzen und sich mit weiteren Hungerkatastrophen, Massenmigrationen, weiterem Bevölkerungswachstum, Pandemien und Kriegen gegenseitig verstärken, wird es in naher Zeit zu apokalyptischen Zusammenbrüchen der menschlichen Zivilisation kommen. Der Philosoph Richard David Precht stellt fest: Der „Kapitalismus“, der immer „wachsen muss“, „wird wohl in diesem Jahrhundert die Erde weitgehend unbewohnbar machen.“1
Offensichtlich stehen wir heute an einer Schwellensituation: entweder es kommt zu einer tiefgreifenden Änderung unserer Wirtschafts- und Lebensweise, oder es kommt zu diesen Zusammenbrüchen. C.Fr. von Weizsäcker deutete schon 1986 in seiner Schrift „Die Zeit drängt“ das mögliche apokalyptische Geschehen unserer Zeit mit diesen Worten: „Jetzt, da die neuzeitliche Zivilisation… die Natur, von der sie lebt, selbst zu zerstört, treten die überlieferten Bilder vom Gericht zum ersten Mal aus der kosmischen Gleichnisrede in den Gesichtskreis unseres konkreten Handelns. Jetzt sind sie mit unserem Handeln nicht nur moralisch und jenseitig, sondern diesseitig-kausal verbunden. Wir können das Gericht über uns selbst herbeiführen. Könnte auch das Himmelreich in unsere Geschichte eintreten, wenn wir nur bereit wären, es zuzulassen?“
In dieser Situation sind die Kirchen durch zwei Fragen herausgefordert:
1. Kann es von Gott her in dieser Krisenzeit („Endzeit“) eine „Wendezeit“ zu einem Neuen geben?
2. Was wären dann die Aufgaben der Kirchen, Christen und Religionen? - Bisherige Voten der Kirchen
Die Kirchen haben seit 1983 (Vancouver) im Konziliaren Prozess eindeutige Optionen für eine gewaltfreie Friedenssicherung, für eine weltweite soziale Gerechtigkeit und für eine unbedingte Bewahrung der Schöpfung formuliert. Seit Anfang dieses Jahrhunderts haben die großen Weltverbände der Kirchen in bedeutenden Verlautbarungen die Fehlentwicklungen unserer Wirtschafts- und Lebensweise angeklagt und zur biblisch gebotenen Umkehr gerufen –
angefangen in der Erklärung des Lutherischen Weltbundes 2003, über das Accra-Bekenntnis des Reformierten Weltbundes 2004, in der Sao Paulo-Erklärung 2012, den Beschlüssen der Vollversammlung des ÖRK 2013 in Busan, der Erklärung des Exekutivausschusses 2018 bis hin zu der Wuppertaler Erklärung 2019. Papst Franziskus hat in seinen Lehrschreiben deutlich gemacht, dass dieses Wirtschaftssystem „tötet“ und zu einem radikalen Wandel aufgerufen.
In der Kritik der vorherrschenden Wirtschaftsweise und in der Richtungsansage einer lebensdienlichen Wirtschaft sind die Aussagen relativ klar. Am weitgehendsten sind die Aussagen der geplanten „Zachäus-Kampagne“, die von den reichen Industrienationen durch eine neue internationale Wirtschafts- und Finanzarchitektur eine Art Wiedergutmachung und Entschädigung für deren Ausbeutungspraktiken gegenüber den Entwicklungsländern fordern.
Auffällig ist allerdings, dass die Frage nach den systemischen Ursachen und in diesem Zusammenhang die Kapitalismusfrage zu wenig geklärt wird. In machen Verlautbarungen werden diese Fragen regelrecht umgangen. Wir meinen, dass ohne diese Klärung unsere zivilisatorische Fehlentwicklung nicht überwunden werden kann.
Wir unterstützen den Aufruf der Ökumenische Vernetzungsinitiative, zur Vollversammlung des ÖRK einen Ort der Begegnung (Casa Común) zu schaffen, in dem die Kräfte einer prophetischen Ökumene ihre Optionen einbringen können. - Das kapitalistische Wirtschaftssystem als Ursache der zivilisatorischen Fehlentwicklung
Angesichts der massiven Fehlfunktionen unseres Wirtschaftssystems muss die Systemfrage gestellt werden, allerdings nicht im alten ideologischen und klassenkämpferischen Sinne Kommunismus versus Kapitalismus, sondern im Sinne der wissenschaftlichen Systemtheorie. Diese untersucht die einzelnen Systemelemente auf ihre verursachenden, steuernden und
umzubauenden Funktionen. In gesellschaftlichen Systemen liegen sie immer sowohl auf der 3 strukturellen wie auf der mentalen Ebene, z.B. welche Ordnungsstrukturen und welche Leitund Wertvorstellungen das Wirtschaftssystem und das gesellschaftliche Leben bestimmen.
Unser vorherrschendes Wirtschaftssystem ist von kapitalistischen Leitvorstellungen und Mechanismen bestimmt. Dabei wird Kapitalismus meist durch zwei Vorstellungen definiert: 1. Kapitalismus sei das Zusammenspiel von Marktwirtschaft und Wettbewerb, 2. Kapitalismus ist Privatbesitz an Produktionsmitteln. Das sind Teilaspekte, jedoch noch nicht das zentrale Wesensmerkmal des Kapitalismus, denn Marktwirtschaft, Wettbewerb und Privatbesitz an Produktionsmitteln kann es – allerdings unter gänzlich andren Rahmenbedingungen! – auch in einer Solidarischen Ökonomie geben.
Das Wesen kapitalistischer Wirtschaftsweise liegt vielmehr in einem doppelten Leitprinzip:
● im Kapitalisierungsprinzip: aus Kapital (Geld) muss mehr Kapital (Geld) werden;
● im Privatisierungsprinzip: Privatisierung möglichst jeder Wertschöpfung in der Hand der Kapitaleigner.
Damit kommt es zu einer Mittel-Zweckverkehrung des Wirtschaftens: Nicht die Bereitstellung nützlicher Produkte, Dienstleistungen und sinnvoller Arbeitsplätze, sondern Profit- und Gewinnmaximierung in Privatverfügung ist erstes Ziel des Wirtschaftens. Die Erstellung von Produkten, Dienstleistungen und Arbeitsplätzen ist nur Mittel zum Zweck der Kapitalakkumulation. Erst wenn dieser Wesenskern des Kapitalismus erkannt ist, sind seine Wirkungen zu verstehen.
Damit das Profitmaximierungsprinzip funktioniert, sind in alle Bereiche des Wirtschaftens, in die Unternehmensverfassung, in die Eigentums- und Geldordnung, in das Lohnsystem usw. Abschöpfungs-, Bereicherungs- und Externalisierungsmechanismen eingebaut, die ständig das Vermögen von unten nach oben transportieren und die Kosten auf die Allgemeinheit, den Staat und die Natur abschieben. Daher kommt es zu den zerstörerischen Funktionen des gegenwärtigen vorherrschenden Wirtschaftssystems – vom Lohndumping, einer „Entlassungsproduktivität“, dem eingebauten frühzeitige Nichtfunktionieren der Waren (Obsoleszenz), der gewinnbringenden Privatisierung des Gesundheitswesens und vieler Bereiche des öffentlichen Lebens (Bildung, Wohnen, Infrastruktur etc.), über die ausbeuterische Verlagerung der Produktion in Billiglohnländer bis hin zur Ausplünderung der Natur.
Die schwerwiegendste Folge des Profitmaximierungsprinzips ist der systemisch bedingte Wachstumszwang: Geld wird nur dort investiert, wo es mehr Geld bringt. Das führt zur ständigen Ausweitung von Produktion und Konsum – heute weit über die Bellastungsgrenzen unseres Ökosystem hinaus. Und ebenso führt dieser Wachstumszwang zu einer größtmöglichen Ausbeutung der ArbeitnehmerInnen, anderer Länder, der Natur, auch der Geschäftspartner.
Die Regeln der sozialökologischen Marktwirtschaft versuchen zwar die gröbsten zerstörerischen Auswirkungen einzugrenzen, sind aber immer in der Defensive, solange das ausbeuterische Leitprinzip der Wirtschaftsweise nicht durch ein gemeinwohlorientiertes und solidarisches Leitprinzip und entsprechende Wirtschaftsstrukturen ausgetauscht wird.
Neben den ökonomischen Ursachen dieser Fehlentwicklung sind mentale Ursachen zu erkennen, vor allem in den fehlgeleiteten Wertevorstellungen der kapitalistischen Ideologie und Lebenspraxis. Diese Ideologien propagieren den Irrtum des materialistischen und sozialdarwinistischen Menschenbildes: der Mensch sei von Natur aus ein auf Egoismus, Konkurrenz und Aggression hin angelegtes Wesen und Leben und Glück sei im Haben und immer mehr Haben
zu finden. Fazit: die kapitalistische Wirtschaftsweise muss mindestens aus drei Gründen überwunden
werden:
1. Sie pervertiert den Menschen zu einem einseitig materialistischen egoistischen Wesen.
2. Sie führt zu einer fortlaufenden sich zuspitzenden sozialen Spaltung der Menschheit: in Überreichtum für wenige, in Benachteiligung und Armut der Vielen.
3. Sie ist systemisch zum immerwährenden Wirtschaftswachstum gezwungen. Mit diesem Wachstumszwang hat unsere Wirtschafts- und Lebensweise die planetarischen Grenzen unseres Ökosystems um ein Vielfaches überschritten (Ökologischer Fußabdruck). Das führt in sehr naher Zeit in eine planetarische Katastrophe, die den Fortbestand der Menschheit gefährdet. Damit ist neben der sozialen auch auf ökologischer Ebene die Unhaltbarkeit des
kapitalistischen Wirtschaftssystems unwiderlegbar erwiesen. - Konturen einer Postkapitalistischen Ökonomie
Grundlegend für das Gewinnen einer zukunftsfähigen lebensdienlichen Ökonomie ist die Umkehrung der wirtschaftlichen Leitvorstellung: Nicht Gewinnmaximierung und Kapitalanhäufung in der Hand weniger kann das dominante Leitziel wirtschaftlichen Handeln sein, sondern:
● Bereitstellung nützlicher Produkte und Dienstleistungen,
● Schaffung nachhaltiger und sinnstiftender Arbeitsplätze
So geschieht die Richtigstellung der Mittel-Zweckbeziehung: „Gewinne“ sind kein Bereicherungsmittel für wenige, sie haben vielmehr der produzierenden und sinnerfüllten Arbeit zu dienen.
Das Leitziel einer solchen Wirtschaft steht unter drei Prämissen:
1. Die unbedingte Erhaltung des Ökosystems: Dem „ökologischen Imperativ“ ist zu gehorchen;
2. Die solidarische und leistungsgerechte Teilhabe aller: Die ökologische Frage ist nur gleichzeitig mit der Gerechtigkeitsfrage zu lösen, da sonst die ökologischen Forderungen von den Ärmeren nicht getragen werden können.
3. Die Entwicklung eines kulturell und sozial stabilen Gemeinwesens nach Prinzipien der Demokratie, der Solidarität, des Gemeinwohls; Förderung geistiger, ästhetischer, spiritueller Werte.
Aus diesen Prämissen ergibt sich als strategisches Ziel: Nicht durch nachträgliche Umverteilung der Reichtümer von oben nach unten und nicht durch nachträgliche ökologische Reparaturen, sondern durch den Umbau der Wirtschaft sollen die sozialen und ökologischen Fehlentwicklungen von vornherein gar nicht erst entstehen. Für den ordnungspolitischen Umbau des kapitalistischen in ein nichtkapitalistisches Wirtschaftssystem ist dies der entscheidende Transformationsschlüssel:
An die Stelle der kapitalistischen Ausbeutungs-, Bereicherungs- und Externalisierungsmechanismen treten nachhaltige, solidarisch-kooperative Wirtschaftsstrukturen
Daraus ergeben sich Systemveränderungen, die hier nur an einigen Beispielen skizziert werden:2
• Umbau der Finanzordnung: Geld soll nicht Abschöpfungs- und Bereicherungsmittel sein, sondern reines Tauschmittel. Konkret: Abschaffung des Kapitalzinses, der Aktiengewinne, des Börsenhandelns. Das Bankensystem soll sich als reine Dienstleistung in öffentlicher Hand befinden, in dem keine Gewinne erzielt werden müssen…
• Umbau der Eigentumsordnung, in der selbst erarbeitetes und selbst genutztes Eigentum geschützt wird, aber nicht zur leistungslosen Abschöpfung fremder Leistung genutzt werden kann (z.B. in Wuchermieten); in der die Dienste der Öffentlichen Hand, des Gesundheitswesens usw. entprivatisiert und entkommerzialisert werden, in dem Grund und Boden und alle natürlichen Ressourcen wieder in Gemeineigentum übergehen…
• Umbau der Unternehmensverfassung: Bilanzierung und Besteuerung der Unternehmen nicht nur nach ökonomischen, sondern auch nach ökologischen und sozialen Kennzahlen; konsequente Mitbestimmung und Gewinnbeteiligung aller am Unternehmen Beteiligten; Begrenzung der privaten Gewinne auf die wirkliche Eigenleistung der Unternehmer; Förderung genossenschaftlicher Unternehmen…
• Aufbau einer leistungsgerechten und solidarischen Einkommensordnung mit einer Entlohnung aller Berufstätigen (auch der Unternehmer) nach Tarifen in einer Spreizung von 1:5 (max. 1:10) …
Weitere Bereiche wie die Entwicklung einer solidarischen Arbeits- und Sozialkultur, einer Ökologisierung und Regionalisierung der Wirtschaft wären ähnlich umzubauen. Der Umbau der kapitalistischen Ökonomie in eine postkapitalistische Ökonomie macht die Entwicklung einer Postwachstumsökonomie möglich, die eine Gleichgewichtsökonomie sein wird. Eine Gleichgewichtsökonomie pendelt sich auf unter maximal 100% der ökologischen Belastungsgrenze ein (ökologischer Fußabdruck). Bei Erreichen eines Sättigungsgrades geht das Wachsen zunehmend in qualitative Entwicklung über: Qualitätsprodukte; Wachsen kultureller Lebensqualitäten, des ökonomisch sozialen Gleichgewichts – dies bei einem wesentlich geringeren materiellen Verbrauch. Statt eine Steigerung des Bruttoinlandsprodukts wird das „Brutto-Sozial-Glück“ (ganzheitlicher Wohlfahrtsindex) angestrebt und bemessen.
Das wird mit „grünen“ Technologien, einem „Green new Deal“ allein nicht gelingen. Das weitere Wirtschaftswachstum vom Umweltverbrauch zu entkoppeln, funktioniert auf Grund des Rebound-Effekts nicht: die Material- und Energieeinsparungen im Einzelprodukt durch Effizienzsteigerung werden durch den Mehrgebrauch der Produkte zunichte gemacht (Beispiel: spritsparende Autos – Zunahme des Autoverkehrs). Die ökologische Katastrophe lässt sich nur
durch eine drastische Reduktion des gesamten Material- und Energieverbrauchs vermeiden.
Darum braucht es eine zwischenzeitliche Schrumpfungsökonomie hin zu einer echten Kreislaufwirtschaft. Das aber gelingt nur durch ein Zurückfahren der Produktion und Konsumtion, bis die 100% ökologische Belastungsgrenze unterschritten wird. Das drastische Runterfahren des gesamten Material- und Energieverbrauchs gelingt nur mit einschneidendem Verzicht auf Wohlstandsprivilegien der reichen Industriestaaten, die durch die Ausplünderung der Natur und Ausbeutung anderer Völker erzielt werden.
Wir werden uns z.B. in Deutschland auf ein Wohlstandsniveau der sechziger oder siebziger Jahre des letzten Jahrhunderts einstellen müssen. Das würde nur bei einem drastischen Absenken der Einkommensunterschiede respektiert werden. Das wiederum geht nur durch einen tiefgreifenden mentalen Wandel, der den materialistischen und sozialdarwinistischen
Grundirrtum hinter sich lässt. - Das Menschenbild und die Aufgaben der Kirchen
Eine Transformation der kapitalistischen in eine postkapitalistische Wirtschaftsweise wird gelingen, wenn sich die Menschen wieder auf die ganzheitlichen Werte besinnen, die ihr eigentliches Menschsein ausmachen. Hilfreich ist hierfür, dass wir uns an das relationale ganzheitliche Menschenbild erinnern lassen und es neu entdecken, wie es in den Weisheiten der alten Kulturen, der Religionen, der Bibel, der Philosophien, in alten und neuen anthropologischen Erkenntnissen verankert ist und wie wir es eigentlich in unserm Innersten wissen. Hier ist erkennbar:
• Der Mensch ist eine bipolare Person. Wir sind auf Selbstliebe, Selbstentfaltung und Autonomie hin angelegte Wesen (Selbstpol). Aber ebenso und noch mehr sind wir von Gott zu Nächstenliebe und Mitempfinden, zur Solidarität, Kooperation, Verantwortung, zu sinnvollem Verzicht und spiritueller Sinnerfahrung begabte Wesen (Sozialpol). Beide Seiten sind für ein gelingendes Leben unerlässlich. Die kapitalistische Wirtschaftsweise bewirkt
mit ihrer auf Materialismus. Konkurrenz und Egoismus ausgerichteten Ideologie und Praxis eine zerstörerische Ausrichtung beider bipolarer Bestrebungen. Die neuere neurobiologische Forschung und Glücksforschung zeigen: Nicht Konkurrenz, Aggression und Kampf ums Dasein, sondern Kooperation, Zugewandtheit, Empathie, Liebe, Vertrauen und Wertschätzung sind die besseren Stimulanzien biologischer, sozialer, auch wirtschaftlicher Systeme. Die biblische Botschaft zeigt, dass der Mensch aus der Erfahrung einer ihm vorgegeben Liebe (Gottes, des Mitmenschen) genau zu diesen Gaben zurückfindet.
• Im Zusammenwirken des Selbst- und des Sozialpol werden wir erst zu Sozialwesen (Geschwisterlichkeit des Menschen). Nur in Beziehungen und Gemeinschaften können wir uns entfalten und glücklich werden. Dazu braucht es die entsprechende Ethik, eine sich Regeln gebende Sozietät (Rechtsordnung, Staatswesen). Hier können Privatinteressen
und Gemeinwohl im demokratischen und rechtsstaatlichen Prozess ausbalanciert werden.
• Der Mensch ist eingebunden im ökologischen Netzwerk der Erde und kann nur leben und überleben, wenn er dessen Stabilität bei Strafe des eigenen Untergangs nicht verletzt. Das wird nur gelingen, wenn die Menschen die Natur wieder in ihrem Eigenwert und in ihrer eigenen Würde erfahren und pflegen („Ehrfurcht vor dem Leben“).
• In all dem ist der Mensch – auch bei einem atheistischen Selbstverständnis – auf „Transzendenz“, hin angelegt. Hier erfährt er Sinngebung und Gewissensanrede. Hier liegen die wichtigsten Inspirations- und Kraftquellen seines Selbstwertes und seines sozialethischen Handelns.
Aus den Prämissen eines ganzheitlichen Menschenbildes wie aus den notwendigen Veränderungen unserer Wirtschaftsweise ergeben sich die wichtigsten Aufgaben der Kirchen und Christen.
• Die wohl wichtigste Aufgabe ist es, von der biblischen Botschaft her erfahrbar zu machen, dass der Mensch „nicht vom Brot allein lebt“, sondern aus der Anrede und Sinngebung eines Größeren. Diese Erfahrung befreit die Menschen von einer rein materialistischen und egoistischen Lebenshaltung und befähigt sie zu einer „Ökonomie des Genug“ – also „mit weniger besser und solidarischer zu leben“. Hierin, in der Frage der Werte und des Lebensstiles sollten Christen und Kirche zur Avantgarde unserer Gesellschaft gehören.
• Ihre 2. Aufgabe besteht darin, der „Missio Dei“, der Sendungsbewegung Gottes in die Welt hinein zu folgen. Das heißt, Mission ist nicht als ein Heimholen in die eigene Kirche misszuverstehen, sondern als das Entdecken und Bezeugen des Wirken Gottes in der Welt heute, dort, wo der gekreuzigte Christus mit den Menschen heute leidet und wo
Menschen auf den Schalom Gottes in unserer Welt hin aufbrechen.
• Die 3. Aufgabe der Kirche liegt darin, in prophetischer Wachheit die Zeichen der Zeit zu erkennen und den biblischen Umkehrruf zu aktualisieren. Dabei wird sie die strukturelle und individuelle „Sünde“ unserer Lebens- und Wirtschaftsweise aufdecken, die Ursachenfrage stellen und den Mut haben müssen, die System- und Kapitalismusfrage zu enttabuisieren. In Analogie zur „Absage an Geist, Logik und Praxis der atomaren Abschreckung“, die die DDR-Kirchen gewagt haben, sollten sich Kirchen und Christen heute klar zu einer „Absage an Geist, Logik und Praxis der kapitalistischen Wirtschaftsweise“ bekennen – eingedenk des Jesuswortes: „Ihr könnt nicht Gott dienen und dem Mammon“ (Mt. 6,24).
• Die 4. Aufgabe der Kirchen liegt darin, Bewegungen zu unterstützen bzw. sich mit ihnen zu verbünden, die Alternativen zur zerstörerischen Wirtschaftsweisen entwickeln, z.B. in der Fridays-for-Future- und andere for-Future-Bewegungen, in der Gemeinwohlökonomie, in der Commons-Ökonomie, in der Care-Ökonomie und in den vielen Projekten einer Solidarischen Ökonomie.
• Als 5. Aufgabe der Kirchen sollten sie in Ihren Gemeinden und Einrichtungen selbst Strukturen einer solidarischen Ökonomie entwickeln, dies z.B. nach den Vorbildern der Klöster, der Hutterischen Brüderhöfen, neuer Kommunitäten, der Modellgemeinden „anders wachsen“, alternativer Geldanlagen (z.B. Oikocredit, Gemeinschaftsbank Banco Palmas) u.v.a.
• Die 6. Aufgabe wäre, in Folge der alttestamentlichen Schalomverheißungen in den Zusammenbrüchen unserer Zeit die Chancen einer „Wendezeit“ zu erkennen, in der eine Gerechtigkeit im Kommen ist, wie sie in den Schalomverheißungen der Bibel und in der Reich-Gottes-Botschaft Jesu vorgezeichnet ist.
Kämen die Kirchen diesen Aufgaben nach, hätten sie in der gegenwärtigen Schwellensituation der Menschheit „ein Wort zu sagen, dass die Welt aufhorchen lässt“ – so Carl Friedrich von Weizsäcker in seinem Anstoß zum Konziliaren Prozesse der Kirchen 1985. Damit würden die Kirchen und Christen ihrer Bestimmung nachkommen, „Salz der Erde und
Licht der Welt“ zu sein. So könnte Gott auch mit den Kirchen und Christen in den kommenden Zusammenbrüchen eine „Wendezeit“ entstehen lassen, die eine befriedete Welt ermöglicht.
Autor: Bernd Winkelmann
in Zusammenarbeit mit Friedrich Brachmann, Günter Treudt, Hans-Jürgen Fischbeck, Peter Girmendonk
1 In „Jäger, Hirten, Kritiker“ S. 248; siehe Harald Lesch „Die Menschheit schafft sich ab“, Hans Joachim Schellnhuber „Selbstverbrennung“
2 Ausführlicher in den Einzelbausteinen und Büchern der ASÖ; siehe www.akademie-solidarische-oekonomie.de
Kontakt:
Bernd Winkelmann, Adelsborn 113a, 37339 Leinfelde-Worbis, Tel.: 036074/ 63910, E-Mail: bernd-winkelmann@web.de
www.akademie-solidarische-oekonmie.de & www.winkelmann-adelsboorn.de
Literaturhinweise:
Bauer, Joachim: „Prinzip Menschlichkeit. Warum wir von Natur aus Kooperieren“, 2006
Bender, Harald; Bernholt, Norbert Bernholt; Winkelmann, Bernd: „Kapitalismus und dann? Systemwandel, Perspektiven gesellschaftlicher Transformation“, 2012
Binswanger, Hans Christoph: „Die Wachstumsspirale“, Marburg 2006
Boff, Leonardo: „Zukunft der Mutter Erde. Warum wir als Krone der Schöpfung abdanken müssen“, 2012
Boff, Leonardo; Hathaway, Mark: „Befreit Schöpfung. Kosmos – Ökologie – Spiritualität. Ein zukunftsweisendes Weltbild“, 2016
Bundesumweltamt: Studie „Gesellschaftliches Wohlergehen innerhalb planetarischer Grenzen“, 2018
Capra, Fritjof: „Lebensnetz. Ein neues Verständnis der lebendigen Welt“, 1996
Capra, Fritjof: „Wendezeit. Bausteine für ein neues Weltbild“, 1990
Duchrow, Ulrich; Hinkelammer, Franz Josef: „Leben ist mehr als Kapital. Alternativen zur globalen Diktatur des Eigentums“, 2002
Felber, Christian: „Gemeinwohlökonomie. Das Wirtschaftsmodell der Zukunft“; 2010
Fromm, Erich: „Haben oder Sein. Die seelischen Grundlagen einer neuen Gesellschaft“, 1988
Ditfurth, Hoimar von: „So lasst uns denn eine Apfelbäumchen pflanzen. Es ist so weit“, 1985
Geißler, Heiner: „Ou Topos. Suche nach einem Ort, den es geben müsste“, 2009
Göpel, Maja: „Unsere Welt neu denken. Eine Einladung“, 2020
Harari, Yuval Noah „Homo Deus. Eine Geschichte von Morgen“, 2017
Kessler, Wolfgang: „Die Kunst, den Kapitalismus zu verändern“, 2019
Lesch, Harald: „Die Menschheit schafft sich ab. Die Erde im Griff des Anthropozän“, 2017
Meadows, Dennis; Meadows, Donella; Jörgen Randers: „Grenzen des Wachstums. Das 30-JahreUpdate.
Signal zum Kurswechsel“, 2009
Miegel, Meinhard: „Exit. Wohlstand ohne Wachstum“, 2010
Paech, Nico: „Befreiung vom Überfluss. Auf dem Weg in die Postwachstumsökonomie“; 2012
Papst Franziskus: „Laudato si´ Über die Sorge für das gemeinsame Haus“; 2015
Papst Franziskus: „Fratelli tutti Über die Geschwisterlichkeit“; 2020
Precht, Richard, David: „Jäger, Hirten, Kritiker: eine Utopie für die digitale Gesellschaft“, 2017
Scheidler, Fabian: „Das Ende der Megamaschine. Geschichte einer scheiternden Zivilisation“, 2015
Seidel, Irmi; Zahrnt, Angelika: „Postwachstumsgesellschaft. Konzepte für die Zukunft“, 2010
Schellnhuber, Hans Joachim „Selbstverbrennung“ 2015
Wegst, Ulrich: „Keine Angst vorm Verzicht. Ein Plädoyer für die wichtigste Kulturtechnik des 21. Jahrhunderts, 2021
Welzer, Harald; Sommer, Bernd: „Transformationsdesign. Wege in eine zukunftsfähige Moderne“, 2014
Welzer, Harald: „Mentale Infrastruktur. Wie das Wachstum in die Welt und in die Seelen kam“, 2011
Winkelmann, Bernd: „Die Wirtschaft zur Vernunft bringen. Sozialethische Grundlagen einer postkapitalistischen Ökonomie“, 2016
von Weizsäcker, Ernst Ulrich „Faktor vier. Doppelter Wohlstand – halber Energieverbrauch“ 199